2016 - Familie Ayo-Al Sheikh


Am 27.11.2016 verlieh das Bündnis für Dachau den dritten Hermann-Ehrlich-Preis an die Familie Ayo-Al Sheikh.



Laudatio von Waltraud Wolfsmüller zur Verleihung des Hermann-Ehrlich-Preises


Sehr verehrte Jury,

sehr geehrte Damen und Herren vom Bündnis für Dachau,

liebe Familie Ayo-Al Sheikh,

meine sehr geehrten Damen und Herren, 




zum 3. Mal wird heute der Hermann-Ehrlich-Preis verliehen. Die Jury hat entschieden, den diesjährigen Preis – ganz im Sinne des Wirkens von Hermann Ehrlich – an die aus Syrien geflohene Familie Ayo–Al Sheikh - Herrn Abdul Aziz Ayo, seiner Ehefrau Aida Al Sheikh und den Söhnen Sulaiman, Yazdan und Dilyar – zu verleihen. Mit dem Preis würdigt das Bündnis für Dachau das couragierte bürgerschaftliche Engagement der Familie für viele Flüchtlinge, die hier im Landkreis Dachau Zuflucht gefunden haben.

Mit dem gegenwärtigen Leben der Familie Ayo–Al Sheikh in Deutschland untrennbar verbunden ist ihre Vergangenheit in Syrien. In der Stadt Ras al-Ain nahe der türkischen Grenze war ihr Leben bis zum Jahr 2003 vom friedlichen und respektvollen Miteinander verschiedener Ethnien geprägt. Abdul Aziz Ayo hatte sich als Rechtsanwalt eine Kanzlei aufgebaut, seine Ehefrau Aida arbeitete als Kinderpflegerin. Die Söhne Sulaiman und Yazdan besuchten als Muslime eine christliche Schule, schmückten zu Weihnachten den Weihnachtsbaum und bemalten zu Ostern die Ostereier. Für Dilyar, der blind zur Welt kam, konsultierten seine Eltern die renommiertesten Ärzte in Syrien. Eine Heilung blieb Dilyar leider bis heute versagt.

Bereits im Jahr 2004 kam es in Ras al-Ain und anderen Städten im Norden Syriens zu Unruhen. Die kurdische Bevölkerung forderte in friedlichen Demonstrationen ihre Rechte ein. Anlässlich eines Fußballspiels eskalierte die Situation. Die syrische Regierung verhaftete mehr als 1.500 Kurden – darunter viele Freunde der Familie - Ärzte, Rechtsanwälte und Lehrer. Abdul Aziz Ayo setzte sich für die inhaftierten Kurden ein, vertrat deren Rechte und besuchte sie regelmäßig im Gefängnis. Er wurde dafür mit einem Reiseverbot belegt. Die Familie stand fortan unter Beobachtung.

Aida kümmerte sich in dieser Zeit zusammen mit ihren Söhnen um die Familienangehörigen der Inhaftierten. „Wir waren die Caritas von Ras al-Ain“, so beschreibt Aida mit eigenen Worten ihre damalige Rolle.

Die Repressalien gegen die Familie Ayo–Al Sheikh nahmen zu. Diverse polizeiliche Durchsuchungen führten insbesondere bei Dilyar zu panischer Angst. Als im Frühjahr 2011 der syrische Bürgerkrieg seinen Anfang nahm, flüchtete Aida mit ihrem Sohn Dilyar nach Deutschland. Im September 2011 kamen beide in der Gemeinschaftsunterkunft Kufsteiner Straße in Dachau an. Sulaiman studierte zu dieser Zeit in der Ukraine Zahnmedizin und Yazdan in Syrien Jura.

Für Aida und Dilyar begann eine schwierige Zeit des Wartens – auf den Abschluss des Asylverfahrens, auf den Ehemann und Vater, auf die Söhne und Brüder. Das Wort „warten“ – „Immer warten“ - so Aida damals, war für sie zum Unwort geworden.
Eine große Freude war es für Mutter und Sohn als Dilyar einen Platz im Blindeninstitut in München bekam und dort – zum ersten Mal in seinem Leben – eine Schule besuchen durfte. Dilyar machte enorme Fortschritte in seiner Entwicklung. Er lernte schnell die deutsche Sprache – spricht mittlerweile sogar bayrisch – und will im kommenden Jahr eine Ausbildung beginnen.

Die Zeit des Wartens zwischen Hoffen und Bangen nutzte Aida: Sie ging offen und ohne Scheu auf die Menschen in und außerhalb der Unterkunft zu, erlernte im Umgang mit ihnen die deutsche Sprache und übersetzte sehr bald für arabisch und kurdisch sprechende Flüchtlinge. Mit ihrer ansteckenden Fröhlichkeit gewann sie in der Unterkunft die Herzen aller. Unvergessen ist ihre Gastfreundschaft, die sie allen Menschen, die an ihre Tür klopften entgegenbrachte - gleich welcher Hautfarbe und Religion. Seit 2014 arbeitet Aida ehrenamtlich im Blindeninstitut München und betreut dort stundenweise die Schülerinnen und Schüler. Im Mutter-Kind-Deutschkurs der Caritas in Dachau übernimmt sie die Kinderbetreuung. Wenn die Asylberatung oder der Arbeitskreis Asyl für Flüchtlinge eine Dolmetscherin brauchen, eine Begleitung zum Arzt oder zu den Behörden – Aida ist immer mit einem fröhlichen Lachen zur Stelle. Für viele Geflüchtete hier im Landkreis ist sie zur Mutter und besten Freundin geworden.

Im September 2013 gelang dem Sohn Yazdan die Flucht nach Deutschland. Er brachte sich die deutsche Sprache mit E-Learning-Programmen selbst bei. Ebenso offen und fröhlich wie seine Mutter ging und geht er auf die Menschen zu und überzeugt durch ein zutiefst freiheitlich-demokratisches Grundverständnis. Yazdan scheut auch keine öffentlichen Auftritte. Er stand Rede und Antwort über die Situation syrischer Geflüchteter im Bayerischen Landtag und absolvierte ein Praktikum beim Integrationsbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung. Im Sommer 2015 gab Yazdan Alphabetisierungskurse in der Berufsschulturnhalle in Dachau und stand den dort notdürftig untergebrachten Menschen mit Rat und Tat zur Seite. Sein selbstbewusstes Auftreten und seine hohe Kompetenz in Integrationsfragen machen ihn bei Einheimischen und Flüchtlingen gleichermaßen zu einem gefragten Ratgeber. Seit April 2016 studiert Yazdan an der Universität Bayreuth Internationale Wirtschaft. Seinem Traum von einem guten Leben in Deutschland ist er damit ein großes Stück näher gekommen.
Abdul Aziz Ayo kam Ende 2013 im Wege der Familienzusammenführung in Deutschland an. Der ruhige und besonnene Familienvater vergrub sich von Anfang an in seinen Kursbüchern, um die Sprache möglichst schnell zu lernen. Daneben kämpft er sich täglich durch die deutsche Tageszeitung. „Papa weiß alles“, antworten die Söhne, sollte im Gespräch eine Frage offen bleiben. Auch Abdul Aziz ist mittlerweile ehrenamtlich engagiert. Er übersetzt syrische Dokumente – als Rechtsanwalt mit hohem Sachverstand – und unterstützt seine Landsleute in Alltagsfragen. Mit einer Fortbildung zum Kulturdolmetscher wird Abdul Aziz sein Engagement als Mittler zwischen den Kulturen noch weiter perfektionieren.

Im September 2015 kam dann – als letztes Familienmitglied - Sulaiman Ayo nach Deutschland. Endlich war die Familie wieder vereint. Für die Eltern wohl einer der schönsten Tage ihres Lebens. Ihren ältesten Sohn hatten sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen.
Sulaimans Wunsch ist es, in Deutschland als Zahnmediziner zu arbeiten. Er weiß, dass er einen harten und mühsamen Weg vor sich hat: Die Sprache, die Fachsprache, die Anerkennung von ausländischen Studienleistungen. Das heißt für ihn: Lernen und warten! Aber auch er nutzt die Zeit des Wartens. Beim Malteser Hilfsdienst in München engagiert sich Sulaiman ehrenamtlich für Menschen ohne Krankenversicherung und kann zumindest dort sein zahnmedizinisches Fachwissen einbringen.

Obwohl Familie Ayo-Al Sheikh weiß, dass es hier in Deutschland Menschen gibt, die Flüchtlingen Hass und Ablehnung entgegenbringen, obwohl sie weiß, dass auch Flüchtlingshelfer sich beschimpfen lassen müssen, zieht sie sich nicht zurück. Sie wirkt aktiv mit und ist dort präsent, wo andere Menschen Hilfe brauchen. Für ihr couragiertes bürgerschaftliches Engagement gebührt ihnen unser höchster Respekt.
Eine aktive Teilnahme am Leben – das rät auch der syrische-stämmige Schriftsteller Rafik Schami in seinem 10-Punkte-Katalog, den er Flüchtlingen mit auf dem Weg gibt. Ich zitiere:
„Sie sollen nicht zu gelähmten Zuschauern werden, sondern aktiv am Leben teilnehmen und mit allen demokratischen Kräften dafür kämpfen, dass die Zustände und Ursachen, die zu ihrer Vertreibung führten, verschwinden.“

Aktiv am Leben teilnehmen - Familie Ayo–Al Sheikh hat sich für diesen Weg entschieden. Das ist nicht immer der einfachere Weg, aber der Ziel führende. Er erfordert Mut, Kraft und sehr viel Durchhaltevermögen.
Aktiv am Leben teilnehmen und Teil der Gesellschaft werden, das können Flüchtlinge nur, wenn die Gesellschaft sie am Leben teilhaben lässt. Vorurteile, Ausgrenzung und Nichtbeachtung lassen die geflüchteten Menschen zwangsläufig zu gelähmten Zuschauern werden. Integration wird aber nur in einem fairen und gleichberechtigten Miteinander gelingen. Dafür tragen wir alle Verantwortung und dazu kann jeder Einzelne beitragen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren;
weltweit sind über 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Das Schicksal von Flüchtlingen darf uns nicht gleichgültig sein. Hier zitiere ich noch einmal Rafik Schami, der in einem Interview sagte: „Die Welt vergisst schnell und Gleichgültigkeit ist der größte Feind der Flüchtlinge.“

Sehr verehrte Jury,
sehr geehrte Damen und Herren vom Bündnis für Dachau,
ich freue mich sehr, dass Sie das vorbildliche bürgerschaftliche Engagement der Familie Ayo-Al Sheikh – stellvertretend für viele andere engagierte Flüchtlinge - mit dem Hermann-Ehrlich-Preis auszeichnen.

Liebe Familie Ayo-Al Sheik,
herzlichen Glückwunsch zur dieser großartigen Auszeichnung!

Waltraud Wolfsmüller 




Die Familie Ayo-Al Sheikh stellt sich in einem Video vor




Einleitende und abschließende Worte: Mike Berwanger

Zur Entstehung des Hermann-Ehrlich-Preises: Kai Kühnel
Die Jury:
Nikola Obermeier (Dachauer Nachrichten)
Walter Gierlich (Dachauer SZ)
Dr. Jürgen Zarusky (Historiker)
sowie vom Bündnis für Dachau
Marion Böhm, Margot Heinze-Ehrlich, 
Helmut Geißler, Kai Kühnel

Für die Erstellung und Bearbeitung des Videos bedanken wir uns bei Niels Jörgensen (dol-Medienservice)

Urkunde und grafische Gestaltung der Einladungen von 
Bruno Schachtner

Demokratieschüssel aus Keramik von der Dachauer
Künstlerin Claudia Flach